Liebe Mitabiturienten, liebe Lehrer und liebe Eltern und Geschwister, die den Abiball über den Bildschirm verfolgen. Ein Sprichwort sagt: „Wenn dein Leben mit dir jongliert, nimm die Bälle einfach selbst in die Hand.“
Habt ihr das schon einmal versucht? Einfach ein paar Bälle der Reihe nach in die Luft werfen und schwubbs wieder fangen. Zugegeben, am Anfang gar nicht so leicht. Was man braucht ist eine gute Portion Ausdauer, Geduld, Motivation und allen voran Zeit, damit – wie es der Biologe ausdrückt – die Myelinisierung der Nervenstränge beider Gehirnhälften unterstützt wird oder einfach gesagt: Das Zusammenspiel zwischen rechter und linker Hand immer besser funktioniert. Scheffelpreisrede2020-BGB.mp4150.27 MB
Jeder Wurf muss harmonisch auf den anderen abgestimmt sein, sodass – und nun sind wir schon beim Physiker – eine gleichförmige Bewegung entsteht, ein gewisser – hört gut hin– Rhythmus.
Unser Rhythmus, der gewohnte Tagesablauf – Aufwachen, Aufstehen und zur Schule gehen – gehört nun der Vergangenheit an und für uns Abiturienten gilt es, unser Leben neu zu ordnen. Wie schwer es ist, einen Rhythmus zu finden, sprich sein Inneres mit all seinen Facetten, Gefühlen und Zweifeln in Einklang zu bringen, hat uns der Deutschunterricht mit den drei Pflichtlektüren offenbart.
So hat Faust es satt, sich weiterhin mit Theologie, Philosophie, Medizin und all der Theorie zu beschäftigen. Ich denke, dass auch viele von uns das 12-jährige Kapitel Lernen gerne und mit einem Gefühl der Erleichterung aber auch des Stolzes zuklappen. Gleichzeitig waren diese Schuljahre aber auch sehr prägend für uns, sodass wir - ohne zur Hybris zu neigen - ebenfalls zu Gelehrten herangereift sind. Doch Faust erkennt, dass das Leben mehr ist, als sich von Bücherbergen voller Wissen begraben zu lassen. Sein Tatendrang sowie leibhafte Erfahrungen und Erlebnisse kommen dabei zu kurz, woraufhin sein inneres Pendel aus dem Takt gerät. Der intensive Wunsch, durch Erlebnisse „zu erfahren, was das Leben sei“, verleiht ihm einen neuen Lebensrhythmus. So erfährt sein Dasein, welches zuvor von der grauen Theorie geprägt war, einen radikalen Umbruch, da von nun an die erlebnisreiche Praxis im Vordergrund steht. Doch macht ihn diese extreme Lebensänderung nach dem Motto „Herz über Kopf“ auch glücklich? Für all diejenigen, die bereits jetzt an diesem Punkt der Rede ausgestiegen sind oder nur die Zusammenfassung der Lektüre gelesen haben – es genügt ein Blick auf die Gattung. Ich glaube „der Tragödie erster Teil“ spricht schon für sich. Faust scheitert daran, seinem Wissensdrang und seinem Tatendrang gleichermaßen Raum zu geben, sodass die Tragödie „surprise, surprise“ einen desaströsen Ausgang nimmt.
Aber vielleicht haben wir ja bei unserer zweiten Deutschlektüre mehr Glück, etwas über einen gelingenden Lebensrhythmus zu erfahren. „Der Steppenwolf“- ein Mensch, der sich selbst als Mischwesen begreift. Harry, der Protagonist des Werkes gibt sich selbst diesen Namen, da er einerseits den Drang verspürt, aus dem normalisierten, eintönigen Bürgerleben auszubrechen und andererseits sich von dessen Ordnung und der anständigen Lebensart angezogen fühlt.
Doch leider gelingt es auch ihm nicht, seine inneren Gegensätze in ein Gleichgewicht zu bringen. Haben wir die Lektüren also umsonst gelesen? Wollen sie uns nur vor Augen führen, wie schwierig und unmöglich es ist, unterschiedliche Wünsche und Charakterzüge unter einen Hut zu bringen? Ja, das ist sicherlich eine der zahlreichen Botschaften des Werkes, doch viel mehr spielt für mich die Art und Weise, wie der Protagonist versucht, mit sich selbst eins zusein, eine Rolle. Der erste Schritt zur Besserung ist in Harrys Fall die Begegnung mit Hermine. Er öffnet sich einer neuen Lebensweise, lernt die moderne Musik schätzen und schließlich auch das Tanzen, um leichtfüßiger durchs Leben zu gehen. Mit Hermines Hilfe erkennt er, dass seine Persönlichkeit und sein Lebensrhythmus nicht festgefahren sind und eine gute Portion Leichtigkeit und Humor zu einem zufriedenstellenden Leben nötig sind.
Auch wir Abiturienten, die wir am Ende unserer Schulzeit stehen, müssen genauso wie Harry Stück für Stück herausfinden, wer wir sind und unseren Lebensrhythmus daran anpassen. Dies geht nicht von heute auf morgen, ist aber sowohl heute als auch morgen möglich. Egal, ob in wenigen Monaten oder erst nach ein paar Jahren – wir können immer wieder unseren beruflichen Werdegang verändern, einen neuen Takt anschlagen.
https://www.bgbuchen.de/aktuelles/aktuelles/rede-der-scheffelpreistraegerin-2020.html#sigProIdc67b2560d0
Vorhin sagte ich, dass auch Harry die Rhythmusfindung nicht vollkommen gelingt, was sich nach einem ebenso ernüchternden Ende wie bei Faust anhört. Doch im Falle Harrys, der fest entschlossen ist, das Figurenspiel seines Lebens eines Tages besser zu spielen, blitzt immerhin ein Funke Hoffnung auf.
Ein Happy End birgt jedoch erst unsere dritte Lektüre: „Der goldene Topf“. Der Student Anselmus mag in mancher Augen geisteskrank, betrunken oder einfach „toll“, sprich „verrückt“, wirken , wenn er liebliche Klänge aus einem Holunderbusch wahrnimmt und wie beseelt mit dem glitzernden Flusswasser spricht, doch letztendlich kann er für uns alle ein Vorbild sein. Er folgt immer mehr seinem Herzen und dem, wovon er sich angezogen fühlt, ungeachtet, dessen, was andere von ihm denken. Ja, man kann es sogar so beschreiben, dass er dem Rhythmus der Gesellschaft den Rücken kehrt und anstatt sich der bürgerlichen Vorstellung von Anstand, Werdegang und rechtem Denken anzupassen, seinen eigenen Rhythmus entwickelt.
Wo bis zum heutigen Tag noch unsere Eltern und Lehrer unseren Lebenstakt mitbestimmten, sind wir nun an einem Punkt angekommen, an dem dies unsere Aufgabe geworden ist. Berufsorientierung, Leben in der eigenen Studentenwohnung, die Organisation von lernen, arbeiten und Freizeit – all das liegt fortan in unseren Händen. Sicherlich löst diese große Selbstverantwortung bei jedem von uns auch Gefühle der Angst und Unsicherheit aus, denn einen gewohnten Alltag hinter sich zu lassen und einen neuen Rhythmus zu finden, ist nicht einfach. Dass es dennoch manchmal notwendig ist, festgefahrene Muster aufzugeben, selbst die Bälle in die Hand zu nehmen und dem Leben einen neuen Rhythmus zu geben, zeigt die folgende Geschichte.
Als das kleine Mädchen mit ihrer Familie in das neue Haus zog, fiel ihm sofort das Boot im Hafen auf. Ein wunderschönes hellbraunes Boot mit weißen großen Segeln. Gespannt wartete das Mädchen jeden Tag darauf, dass es in See stach, doch soweit kam es nie. Eines Tages ging es hinunter an den Steg, wo es einen Mann in dem Boot sitzen sah. „Wieso fährst du nie los? Ist das Boot kaputt?“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein, kaputt ist es nicht, aber mir gefällt der Hafen hier so gut. Und ich würde sicherlich nirgends einen so schönen Platz mehr finden. Drum bleibe ich lieber hier“. Der Blick des Mädchens fiel auf eine Kiste mit allerlei Ausrüstung. „Aber Sie haben doch ein Fernrohr, eine Landkarte, einen Kompass und ein Tau zum Festmachen. Sie könnten jederzeit aufbrechen und Neues entdecken. Möchten Sie das denn nicht?“ „Doch doch. Sehr gerne sogar. Aber die Wellen, das Wetter, die Angst mich trotzdem einmal zu verfahren.. Hier bin ich sicher.“ Das kleine Mädchen verstand die Worte des Mannes nur zur Hälfte, aber an seinem sehnsüchtigen Blick las es ab, dass er nicht vollkommen zufrieden war. Am nächsten Tag, als es hinunter an den Steg kam, war das Boot leer. Der Mann war fort und an einem Pfeiler flatterte ein Stück beschriebener Stoff. „Ich versuch es mal zu Fuß“ stand in krakeligen Buchstaben darauf.
Wohin ihn seine Füße tragen werden, ob er sein Glück finden oder nach kurzer Zeit wieder zurückkehren wird - all diese Fragen beantwortet die Geschichte dem Leser nicht, obgleich es gerade für uns Abiturienten sicherlich spannend wäre, zu erfahren, ob der Aufbruch richtig war. Aber auch wir besitzen genauso wie der Mann keine hellseherischen Fähigkeiten, um einen Blick in die Zukunft zu werfen, um im Voraus abzuwägen, ob sich eine Reise in genau diese Richtung zu genau diesem Zeitpunkt lohnen wird. Zweifelsohne bedrücken diese Gedanken und die Sorge um das Morgen auch den männlichen Protagonisten der Geschichte, der sich vor Unwetter und Gefahren fürchtet. Doch da wird immer Hilfe sein – erinnert ihn das Mädchen sinnbildlich mit dem Verweis auf Fernrohr, Karte und Kompass.
Auch wir hatten auf dem Weg zum Abitur so mancherlei „Hilfsmittel“ an unserer Seite. Und damit meine ich nicht primär Taschenrechner, Formelsammlung, Spickzettel und Co., auch wenn diese Dinge für so manchen Schüler ganz schön wichtig waren. Nein, ich denke vielmehr an Hilfe in persönlicher Gestalt, an unsere Unterstützer, die uns bisher den Rhythmus aufgezeigt, die uns Impulse gegeben haben. Unsere Lehrer, unsere Freunde, unsere Familie – alle, die uns unterstützt haben, wenn die linke Hand nicht recht wusste, was die rechte tut, wenn es uns mal an Ausdauer oder Motivation mangelte oder wir Klausurvorbereitung, Omas Geburtstag und das Fußballtraining nicht zu vereinbaren wussten. Wenn wir Gefahr liefen, dass uns die Bälle unseres Jonglier-Stücks namens „Schule“ entglitten, wart ihr, waren Sie, für uns da. Herzlichen Dank dafür!
Auch für die Zukunft möchten wir diese Unterstützung nicht missen. Dennoch: In der Geschichte ergreift der Mann trotz der vielen Hilfsmittel gerade nicht die Initiative zum Aufbruch. Fehlt es ihm an Mut? Schließlich ist das Boot intakt und alles Wichtige scheint parat zu sein. Möglicherweise ist seine Zurückhaltung ein Zeichen dafür, dass die innere Aufbruchsstimmung nicht gesteuert werden kann. Sind wir selbst nicht bereit dazu, bringt es gar nichts – nur wegen den guten äußeren Voraussetzungen – einen Aufbruch zu wagen. Erst, wenn wir den Mut zum Neuanfang spüren, können wir ihn auch wagen.
Gleichzeitig bekundet die unerwartete Art des Aufbruchs zu Fuß, die unendlich vielen Möglichkeiten, seinen Lebensrhythmus neu zu generieren, beziehungsweise ihn an unsere neue Situation anzupassen. Es gibt eben nicht die eine goldene Spur zum Glück.
Natürlich kann ein Neuanfang auch mit Angst und einem mulmigen Gefühl verbunden sein, aber wenn wir in ein paar Jahren zurückblicken, so denke ich, wird die Hälfte der befürchteten Ereignisse gar nicht eingetreten und die andere Hälfte mehr oder weniger gut überstanden sein. Wenn der Mann und auch wir Abiturienten vor lauter Angst keinen Neuanfang wagen, können wir auch nichts erleben. Wir treten auf der Stelle, weil unser alter Lebensrhythmus zur Fessel wird und wir uns nicht trauen, ihn anzupassen.
Manchmal kommen uns dann Ereignisse zuvor und bringen unseren gewohnten Rhythmus aus dem Gleichgewicht. So wie beispielsweise die Corona-Pandemie, durch die sich die Abiturtermine und auch der Tagesablauf änderten. Und vielleicht haben solche Ereignisse in diesem Fall sogar etwas Positives. Wir sind dazu gezwungen, uns neu zu ordnen. Vielleicht kommen wir bei unserem Jonglier-Stück namens „Leben“ fortan mit weniger Bällen zurecht, ändern deren Flugrichtung oder wagen uns an ein neues Muster.
In diesem Sinne wünsche ich uns
… … dass wir nicht aufgeben wenn Ereignisse unsere Pläne durchkreuzen und unseren Rhythmus durcheinander bringen
. … dass die Hoch-und Tiefpunkte, das Auf-und Ab im Studium oder dem Beruf unserer Motivation keinen Abbruch tun.
Ich wünsche uns,
… dass es uns gelingt, all unsere Charaktereigenschaften in ein harmonisches rhythmisches Jongliermuster zu bringen.
… dass uns der eigene Lebensrhythmus Sicherheit gibt, aber nicht zur Fessel wird.
Ich wünsche uns,
… dass wir Stück für Stück über uns hinauswachsen, weil unserem Rhythmus keine Grenzen gesetzt sind.
… dass immer wieder Menschen an unserer Seite stehen, wenn nicht alles rund läuft: Studium, Umzug, Beziehungen oder auch Kochen, Putzen und was auch immer der Abiturient noch lernen muss.
Kurzum: Ich wünsche uns allen, einen Lebensrhythmus, der uns begeistert. Dankeschön!
(Text: Anna-Maria Balles, Bilder: Pia Jaroschinsky, Video: Benjamin Roos und Jonas Götz)